„Die operierte Brust ist oft kleiner“
Nach einer BET tragen viele Frauen einen Brustausgleich. Warum? Sechs Anpasserinnen aus vier Ländern geben Antwort.
Frauen mit Brustkrebs werden in den meisten Ländern mittlerweile zu gut 70 Prozent brusterhaltend operiert – viele von ihnen tragen danach eine Teilprothese oder eine Ausgleichsschale. Warum? Das haben wir Anpasserinnen in Schweden, Deutschland, Australien und den USA gefragt, die sich auf die Beratung von Frauen mit Brustkrebs spezialisiert haben.
Ausgleichsteile und Brustprothesen sind nur für Frauen, die eine Mastektomie hatten? Stimmt nicht. Tatsächlich haben auch Frauen, die eine brusterhaltende Therapie (BET) erhalten haben, Anspruch auf eine (Teil-)Prothese. Gleiches gilt für Frauen, die von Natur aus unterschiedlich große Brüste haben und stark unter der Asymmetrie leiden. Auch diese lassen sich mitunter im Sanitätshaus beraten.
Doch welche Herausforderungen bringt das für die Versorgung von BET-Patientinnen mit sich? Und wissen betroffene Frauen überhaupt, dass sie Anspruch auf einen Brustausgleich haben? Wir haben sechs Expertinnen aus vier unterschiedlichen Ländern gefragt.
Simone Vetter, 45, Sanitätsfachverkäuferin, Gerstberger Vitalcenter in Memmingen (Allgäu)
Als medizinische Produktberaterin arbeite ich vor allem im Außendienst, das heißt, ich besuche Reha-Kliniken. Ein Großteil meiner Patientinnen sind Frauen, die Brustkrebs hatten. Gut 80 Prozent von ihnen wurden brusterhaltend operiert und wissen oft gar nicht, dass sie Anspruch darauf haben, von mir versorgt zu werden. Da heißt es dann: aufklären.
Manche Frauen, die eine brusterhaltende Therapie erhalten haben, tragen später sogenannte Ausgleichsteile aus Silikon, weil ihre Brüste durch die Operation asymmetrisch geworden sind. In der Reha sind die Brüste oft noch geschwollen, die Narben frisch. Spezielle Erstversorgungs-BHs können da in jedem Fall helfen. Die stützen die Brust besser als normale BHs und die breiteren Träger verhindern, dass der Fluss der Lymphe behindert wird. Zudem sorgt das elastische Material für eine leichte Kompression, die die Heilung der Narbe fördert. Später, bei der Anpassung einer Teilprothese, ist es wichtig, dass die operierte Brust komplett abgeschwollen ist. Nur so kann die richtige Größe bestimmt werden.
An die Form ihrer Brüste hat jede Frau einen ganz eigenen Anspruch. Meine linke Brust ist zum Beispiel einen halben Cup kleiner als meine rechte. Mich persönlich stört das jedoch nicht – tatsächlich ist mir der Größenunterschied erst vor ein paar Jahren aufgefallen.
Sherry Kendrick, 44, Certified Mastectomy Fitter (zertifizierte Anpasserin in der Brustversorgung) bei „A Woman's Place“ im Tallahassee Memorial HealthCare Krankenhaus, Florida (USA)
Die meisten meiner Kundinnen, die Ausgleichsteile tragen – das sind etwa 20 Prozent aller Kundinnen –, haben entweder eine brusterhaltende Operation (BET) oder eine Mastektomie mit anschließender Brustrekonstruktion hinter sich. Viele von ihnen stellen nach dem Wiederaufbau fest, dass ihre Brüste unterschiedlich groß sind und dass sie einen Ausgleich benötigen. Auch fehlt Brustimplantaten die Wölbung einer natürlichen Brust. Silikonimplantate sind vorne eher flach; deshalb passt die Brust häufig nicht richtig in das BH-Körbchen. Außerdem kann die Bestrahlung einer Brust kann dazu führen, dass das Brustgewebe schrumpft. Auch dann wird eine Teilprothese erforderlich.
Meine Erfahrung der letzten Jahre ist, dass betroffene Frauen nur wenig über Ausgleichsteile wissen. Deshalb informieren wir in einer extra Broschüre über das Thema, die wir in Arztpraxen und in Krebszentren vor Ort verteilen.
Manche unserer BET-Patientinnen werden von ihren Ärzten darauf hingewiesen, dass sie Anspruch auf diese Produkte haben – andere erfahren es per Mundpropaganda von Freundinnen, der Familie oder von anderen Frauen, die sich in der gleichen Situation befinden.
Renate Domgörgen, 58, Fachberaterin für Brustprothetik, Fendel & Keuchen in Aachen
Ich arbeite in einem Sanitätsfachgeschäft und versorge Frauen, denen wegen einer Brustkrebserkrankung eine Brust entfernt wurde – darunter auch viele, die brusterhaltend operiert wurden. Die meisten von ihnen wissen durch eine Krankenschwester oder Breast Care Nurse, dass sie nach einer BET Anspruch auf eine Teilepithese haben – etwa, weil ihre Brüste nach dem Eingriff unterschiedlich groß sind. Meist ist in solchen Fällen natürlich die operierte Brust kleiner.
Je nachdem, wo der Tumor sitzt, werden die Frauen an unterschiedlichen Stellen der Brust operiert. Erfolgte der Eingriff in der Nähe der Achsel, brauchen sie in der Regel einen Ausgleich nach außen. Wurde der Tumor in der Mitte der Brust entfernt, geht es hingegen meist darum, das Dekolleté ein Stück weit anzuheben.
Mittlerweile sehe ich meist bereits auf den ersten Blick, welchen Brustausgleich eine Frau benötigt. Am Ende der Beratung sollen sie die Entscheidung jedoch selbst treffen. Das Wichtigste ist, dass sie sich mit der Ausgleichsprothese wohlfühlen.
Ganz selten kommen auch Frauen zu mir, die von Natur aus unterschiedlich große Brüste haben. Sie müssen die Versorgung allerdings meist selbst zahlen – es sei denn, sie können mit einem Gutachten des Medizinischen Diensts der Krankenversicherung (MDK) belegen, dass sie unter der Asymmetrie psychisch leiden.
Ingrid Sandén, 58, Breast Care Nurse im Skåne Hospital in Malmö (Schweden)
Etwa jede zehnte Patientin, die in das Brustzentrum unseres Krankenhauses kommt, wird mit einer Teilprothese versorgt. Im südlichen Schweden werden mehr als 80 Prozent der Brustkrebsoperationen brusterhaltend durchgeführt – das liegt sicher auch an der guten Arbeit der Chirurgen. Da Frauen nach einer brusterhaltenden Therapie in der Regel eine Strahlentherapie erhalten, bleibt die Brust oft über längere Zeit etwas geschwollen. In dieser Zeit benötigen sie noch keine Ausgleichsprothese.
In einigen Fällen ist der Größenunterschied erst nach einem Jahr oder später sichtbar, oder wenn die Patientin entweder Gewicht verloren oder zugenommen hat. Für mich persönlich ist es nicht schwieriger, eine Teilprothese anzupassen als eine Vollprothese. Ich probiere einfach mit den Frauen verschiedene Formen aus, bis wir die richtige Passform gefunden haben.
Angela von Bülow, 64, Breast-Care-Teamleiterin und Lymphspezialistin, Sanitätshaus Stolle in Hamburg
Als gelernte Krankenschwester habe ich früher in der Anästhesie gearbeitet. Vor gut 20 Jahren schulte ich dann aus familiären Gründen zur Sanitätsfachkraft um und war ziemlich begeistert von den ganzen Hilfsmitteln – mit so etwas wie Prothetik kam ich in der Klinik ja nur selten in Kontakt. Damals war die Ablatio noch absolut die Regel, brusterhaltende Operationen gab es kaum.
Ein Problem, das mir in meiner Arbeit mit BET-Patientinnen begegnet, ist der Mangel an Information: Bei Frauen, die einen kleinen Tumor haben, ist der Größenunterschied nach der BET oft sehr gering. Mit ein Grund, weshalb sie über den Nutzen von Ausgleichsteilen kaum informiert werden – frei nach dem Motto: „Brüste sind manchmal auch von Natur aus unterschiedlich groß“.
BET-Patientinnen sehen das oft anders, schließlich ist ihre operierte Brust nicht von Natur aus kleiner – sie ist es, weil sie krank waren. In der Konsequenz fühlen sich viele mit der Asymmetrie unwohl. Ihnen können Epithesen helfen, sich wieder frei in ihrem Alltag zu bewegen.
Nach meiner Erfahrung sind Frauen, die eine brusterhaltende Therapie erhalten haben, in der Versorgung oft sogar anspruchsvoller als solche mit einer Mastektomie. Ich finde das aber gut. Schließlich geht es um ihren Körper und darum, sich in ihm wohlzufühlen.
Gillian Horton, Inhaberin von Colleen’s Lingerie and Swimwear in Garran (Australien)
Vor der brusterhaltenden OP kommen die Frauen in erster Linie wegen eines Erstversorgungs-BHs zu uns. Das ist jedoch nicht der geeignete Zeitpunkt, um sie über Ausgleichsteile zu informieren – denn keine von ihnen geht davon aus, dass sie so etwas überhaupt brauchen wird. Wir sehen die Frauen erst dann wieder, wenn sie nach der brusterhaltenden Therapie keinen passenden BH finden können oder sich unwohl fühlen. Auch wissen die meisten von ihnen nicht, dass sie Anspruch auf die Übernahme der Kosten für eine Brustteilprothese durch ihre Krankenkasse haben.
Ich denke, die größte Herausforderung in der Versorgung von Brustkrebspatientinnen besteht darin, sie über ihre Optionen nach einer brusterhaltenden Therapie (BET) aufzuklären. Oft sind die Brüste direkt nach Operation noch gleich groß und symmetrisch, aber nach der Bestrahlung, einer Hormontherapie oder Gewichtszunahme beziehungsweise Gewichtsverlust kann sich das ändern. Eine Asymmetrie zeigt sich oft auch erst Jahre später – und dann wissen die Frauen nicht, dass es Ausgleichsformen gibt. Zu dem Zeitpunkt ist die Therapie abgeschlossen und meist gibt es auch sonst keinen Ansprechpartner, den sie um Rat fragen könnten. Deshalb ist es für uns so wichtig, den richtigen Moment zu finden, um über die Möglichkeiten von Ausgleichsteilen zu informieren.
Meine Erfahrung ist, dass viele brusterhaltend operierte Frauen enorm von einer Teilprothese profitieren: Damit sitzt der BH richtig und bequem. Und nicht zuletzt verhilft ihnen das Ausgleichsteil zu mehr Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen – und auch die Kleidung passt deutlich besser.
Fotos:
privat
Stolle Sanitätshaus